Rapa Nui - Neues Buch Der Vogelmann-Kult

Neues Buch von Wilhelm Janssen:

Leseprobe Seite 110:

Der Vogelmann-Kult:

Der Vogelmann-Kult

Zu Beginn des 16. Jahrhunderts, entwickelte sich auf der Osterinsel der so genannte Vogelmann-Kult. Dieser Kult wurde aus der Idee und dann Tradition geboren, einmal jährlich oben an der Steilküste des Rano Kau einen Wettbewerb zu veranstalten, um anschließend den Besten die Vogelmann-Krone aufzusetzen. Sieger war, wer in einem Schwimmwettbewerb als Erster ein Vogelei von der entfernten Brutinsel Motu-Nui unbeschadet oben auf die Rano Kau Klippe gebracht hatte. Die Initiatoren des Wettbewerbes waren die Miru-Krieger, die späteren Führer des westlichen Clan-Verbundes der Ko Tu‘u. "Tu‘u" war dabei nicht nur der Name der westlichen Krieger-Allianz, sondern auch der Name des Schutzpatrons und Schirmherrn der Kriegsführung, unter dem sich die Miru-Krieger besonders beschützt gefühlt haben. Damit hatten die Miru-Krieger auch eine besondere Nähe zum Schöpfergott Make-Make, wie die vielen Make-Make Petroglyphen im Gebiet der Miru im westlichen Norden der Insel zeigen.

Aus dem sportlichen Krieger-Wettbewerb wurde eine Religion, als die letzten großen Bäume der Insel fielen und die damit einhergehenden Probleme nicht mehr aufzuhalten waren. Das Klima veränderte sich; die Fruchtbarkeit der Böden und die damit verbundenen veganen Nahrungsmittelressourcen gingen immer weiter zurück. Es fehlte Bauholz zum Bau von hochseetauglichen Booten; die Fischer konnten immer seltener aufs offene Meer hinaus und mangels Fangerfolg die Bevölkerung nicht mehr ausreichend mit tierischen Proteinen versorgen. Die weiterhin in Auftrag gegebenen und produzierten Moai mussten, bis auf wenige Ausnahmen, im Moai-Steinbruch Rano Raraku verbleiben, weil sie nicht mehr zu den Ahu-Anlagen transportiert werden konnten. Die göttliche Mana des Großkönigs war offensichtlich zu schwach geworden, um die Probleme auf der Insel zu lösen, ebenso die Mana-Kraft der alten Moai auf den Ahu-Anlagen.

In dieser Situation bot sich der Vogelmann geradezu als neue religiöse Führungskraft an. Denn nach dem Glauben des neuen Kultes sandte Gott Make-Make persönlich das erste Vogelei der jährlichen Brutsaison an den auserwählten Bewerber. Damit hatte der Vogelmann eine direkte Verbindung sowohl zu Gott Make-Make als auch zu den Nebengöttern aus dem Ursprungsland Hiva. Im Verlaufe der Jahre galt das von Gott Make-Make übersandte Ei dann plötzlich auch als derart stark, dass die übertragene Kraft sogar töten konnte. Aus diesem Grund musste die Hand, mit der das heilige Ei berührt worden war, für die nächsten fünf Monat in Quarantäne. Das galt sowohl für den Vogelmann als auch für seinen Helfer, der ihm das Ei von der Vogelinsel Motu Nui gebracht hatte. Mit dieser Hand durften die Akteure weder essen noch durfte die Hand gewaschen noch daran die Fingernägel geschnitten werden.

Doch mit der Übernahme der Macht durch den jeweiligen Vogelmann und die Beschränkung der Befugnisse des Großkönigs, der Priester und sogar des Mana in den Moai wurde die Situation auf der Insel nicht besser, sondern noch schlimmer. Dem jeweiligen Vogelmann fehlten sowohl die Kenntnisse der Priester aus den gewachsenen Überlieferungen als auch die Kenntnisse des Großkönigs zur politischen und wirtschaftlichen Führung einer Inselgemeinschaft.

Traditionell wurde dem Vogelmann während seiner einjährigen Amtszeit ein Priester zur Seite gestellt. Doch der Priester war ein Vertrauter des Vogelmannes und kam somit nicht unbedingt aus dem inneren Zirkel der Hohepriester. Die (einfachen) "tumu ivi'atua" unterstützten den Vogelmann bei seinen Prophezeiungen dann auch mit teilweise fragwürdigen Entscheidungen. Solche Entscheidungen ließen die Inselgemeinschaft dann glauben, die niederen Fähigkeiten des tumu ivi'atua habe einen schlechten Einfluss auf den Vogelmann. Einen Nachteil für den Vogelmann ergab sich daraus nicht. Informanten von Katherine Routledge konnten ihr 1914/15 noch berichten, dass die Vogelmänner unheimliche Personen waren, deren Geister unangenehme Dinge tun konnten. Was mit "unangenehm" gemeint war, nennt William J. Thomson 1889 beim Namen, nämlich Anweisungen zum Kannibalismus.

Für den jährlichen Sieger im Vogelmann-Wettbewerb war es oft auch eine gute Gelegenheit, alte offene Rechnungen gegenüber seinen unliebsamen Kontrahenten auszugleichen, indem er seine Schergen (Krieger) anwies, Ressourcen zu plündern, Gefangene zu machen oder gar territoriale Gebiete einzunehmen. Dies führte zwangsläufig zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit Clan-Gruppen, die sich bei der Verteilung der Ressourcen benachteiligt fühlten. So geschehen mit dem Krieg am Poike-Graben um 1670, der zur vollständigen Einstellung der Arbeiten im Moai-Steinbruch Rano Raraku führte, oder auch mit dem großen Krieg ab 1772, der mit dem Machtwechsel der westlichen Ko Tu‘u an die östlichen Hotu-iti endete.

Aber auch die Vogelmänner, die nach dem großen Krieg von den östlichen Clans gestellt wurden, waren nicht besser als ihre westlichen Vorgänger. Ab nun wurden nicht nur Ressourcen geplündert, Gegner getötet und Gefangene gemacht, ab nun wurden in wechselseitigen Vergeltungsmaßnahmen auch sämtliche Moai von ihren Sockeln gestürzt. James Cook (1774) und seine Reisegefährten berichten von den ersten größeren Anzeichen kriegerischer Auseinandersetzungen und Sturz einzelner Moai. Reisende im eingehenden 19. Jahrhundert berichten vom Sturz der letzten Moai und Inselbewohner, die in einer sehr aggressiven Art und Weise die Besucher mit Steinwürfen in die Flucht trieben. Anstatt für ein besseres Leben der Bevölkerung zu sorgen, hatten die Vogelmänner die Osterinsel in einen Zustand von Chaos und Anarchie geführt.

Es scheint auch, als hätten die Anhänger des Vogelmann-Kultes versucht, ihre Dominanz gegenüber dem Moai-Ahnenkult symbolisch zu bekräftigen, indem sie den Moai Hoa Hakananai’a mit Vogelmann-Petroglyphen verziert haben und der Vogelmann selbst seine Residenz direkt am Moai-Produktionszentrum Rano Raraku platzierte. Und doch sollte der Moai-Kult den Vogelmann-Kult überleben. Das Ende des Vogelmann-Kultes kam 1862/63 mit der gewaltsamen Entführung der Insulaner durch peruanische Menschenhändler sowie mit den anschließend eingeschleppten tödlichen Krankheiten 1863/64, die Moai und die Ahnenverehrung aber blieben.

Der Vogelmann-Kult und der Moai Hoa Hakananai'a

Der Moai Hoa Hakananai’a im Steinhaus #13 (Taura Renga) ist die einzige Moai-Statue auf der Osterinsel, die mit Petroglyphen aus dem Vogelmann-Kult versehen wurde.

 

 

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