Zu Beginn des 16. Jahrhunderts, entwickelte sich auf der Osterinsel
der so genannte Vogelmann-Kult. Dieser Kult wurde aus der Idee
und dann Tradition geboren, einmal jährlich oben an der
Steilküste des Rano Kau einen Wettbewerb zu veranstalten,
um anschließend den Besten die Vogelmann-Krone aufzusetzen.
Sieger war, wer in einem Schwimmwettbewerb als Erster ein Vogelei
von der entfernten Brutinsel Motu-Nui unbeschadet oben auf die
Rano Kau Klippe gebracht hatte. Die Initiatoren des Wettbewerbes
waren die Miru-Krieger, die späteren Führer des westlichen
Clan-Verbundes der Ko Tu‘u. "Tu‘u"
war dabei nicht nur der Name der westlichen Krieger-Allianz,
sondern auch der Name des Schutzpatrons und Schirmherrn der
Kriegsführung, unter dem sich die Miru-Krieger besonders
beschützt gefühlt haben. Damit hatten die Miru-Krieger
auch eine besondere Nähe zum Schöpfergott Make-Make,
wie die vielen Make-Make Petroglyphen im Gebiet der Miru im
westlichen Norden der Insel zeigen.
Aus dem sportlichen Krieger-Wettbewerb wurde eine Religion,
als die letzten großen Bäume der Insel fielen und
die damit einhergehenden Probleme nicht mehr aufzuhalten waren.
Das Klima veränderte sich; die Fruchtbarkeit der Böden
und die damit verbundenen veganen Nahrungsmittelressourcen gingen
immer weiter zurück. Es fehlte Bauholz zum Bau von hochseetauglichen
Booten; die Fischer konnten immer seltener aufs offene Meer
hinaus und mangels Fangerfolg die Bevölkerung nicht mehr
ausreichend mit tierischen Proteinen versorgen. Die weiterhin
in Auftrag gegebenen und produzierten Moai mussten, bis auf
wenige Ausnahmen, im Moai-Steinbruch Rano Raraku verbleiben,
weil sie nicht mehr zu den Ahu-Anlagen transportiert werden
konnten. Die göttliche Mana des Großkönigs war
offensichtlich zu schwach geworden, um die Probleme auf der
Insel zu lösen, ebenso die Mana-Kraft der alten Moai auf
den Ahu-Anlagen.
In dieser Situation bot sich der Vogelmann geradezu als neue
religiöse Führungskraft an. Denn nach dem Glauben
des neuen Kultes sandte Gott Make-Make persönlich das erste
Vogelei der jährlichen Brutsaison an den auserwählten
Bewerber. Damit hatte der Vogelmann eine direkte Verbindung
sowohl zu Gott Make-Make als auch zu den Nebengöttern aus
dem Ursprungsland Hiva. Im Verlaufe der Jahre galt das von Gott
Make-Make übersandte Ei dann plötzlich auch als derart
stark, dass die übertragene Kraft sogar töten konnte.
Aus diesem Grund musste die Hand, mit der das heilige Ei berührt
worden war, für die nächsten fünf Monat in Quarantäne.
Das galt sowohl für den Vogelmann als auch für seinen
Helfer, der ihm das Ei von der Vogelinsel Motu Nui gebracht
hatte. Mit dieser Hand durften die Akteure weder essen noch
durfte die Hand gewaschen noch daran die Fingernägel geschnitten
werden.
Doch mit der Übernahme der Macht durch den jeweiligen
Vogelmann und die Beschränkung der Befugnisse des Großkönigs,
der Priester und sogar des Mana in den Moai wurde die Situation
auf der Insel nicht besser, sondern noch schlimmer. Dem jeweiligen
Vogelmann fehlten sowohl die Kenntnisse der Priester aus den
gewachsenen Überlieferungen als auch die Kenntnisse des
Großkönigs zur politischen und wirtschaftlichen Führung
einer Inselgemeinschaft.
Traditionell wurde dem Vogelmann während seiner einjährigen
Amtszeit ein Priester zur Seite gestellt. Doch der Priester
war ein Vertrauter des Vogelmannes und kam somit nicht unbedingt
aus dem inneren Zirkel der Hohepriester. Die (einfachen) "tumu
ivi'atua" unterstützten den Vogelmann bei seinen Prophezeiungen
dann auch mit teilweise fragwürdigen Entscheidungen. Solche
Entscheidungen ließen die Inselgemeinschaft dann glauben,
die niederen Fähigkeiten des tumu ivi'atua habe einen schlechten
Einfluss auf den Vogelmann. Einen Nachteil für den Vogelmann
ergab sich daraus nicht. Informanten von Katherine Routledge
konnten ihr 1914/15 noch berichten, dass die Vogelmänner
unheimliche Personen waren, deren Geister unangenehme Dinge
tun konnten. Was mit "unangenehm" gemeint war, nennt
William J. Thomson 1889 beim Namen, nämlich Anweisungen
zum Kannibalismus.
Für den jährlichen Sieger im Vogelmann-Wettbewerb
war es oft auch eine gute Gelegenheit, alte offene Rechnungen
gegenüber seinen unliebsamen Kontrahenten auszugleichen,
indem er seine Schergen (Krieger) anwies, Ressourcen zu plündern,
Gefangene zu machen oder gar territoriale Gebiete einzunehmen.
Dies führte zwangsläufig zu kriegerischen Auseinandersetzungen
mit Clan-Gruppen, die sich bei der Verteilung der Ressourcen
benachteiligt fühlten. So geschehen mit dem Krieg am Poike-Graben
um 1670, der zur vollständigen Einstellung der Arbeiten
im Moai-Steinbruch Rano Raraku führte, oder auch mit dem
großen Krieg ab 1772, der mit dem Machtwechsel der westlichen
Ko Tu‘u an die östlichen Hotu-iti endete.
Aber auch die Vogelmänner, die nach dem großen Krieg
von den östlichen Clans gestellt wurden, waren nicht besser
als ihre westlichen Vorgänger. Ab nun wurden nicht nur
Ressourcen geplündert, Gegner getötet und Gefangene
gemacht, ab nun wurden in wechselseitigen Vergeltungsmaßnahmen
auch sämtliche Moai von ihren Sockeln gestürzt. James
Cook (1774) und seine Reisegefährten berichten von den
ersten größeren Anzeichen kriegerischer Auseinandersetzungen
und Sturz einzelner Moai. Reisende im eingehenden 19. Jahrhundert
berichten vom Sturz der letzten Moai und Inselbewohner, die
in einer sehr aggressiven Art und Weise die Besucher mit Steinwürfen
in die Flucht trieben. Anstatt für ein besseres Leben der
Bevölkerung zu sorgen, hatten die Vogelmänner die
Osterinsel in einen Zustand von Chaos und Anarchie geführt.
Es scheint auch, als hätten die Anhänger des Vogelmann-Kultes
versucht, ihre Dominanz gegenüber dem Moai-Ahnenkult symbolisch
zu bekräftigen, indem sie den Moai Hoa Hakananai’a
mit Vogelmann-Petroglyphen verziert haben und der Vogelmann
selbst seine Residenz direkt am Moai-Produktionszentrum Rano
Raraku platzierte. Und doch sollte der Moai-Kult den Vogelmann-Kult
überleben. Das Ende des Vogelmann-Kultes kam 1862/63 mit
der gewaltsamen Entführung der Insulaner durch peruanische
Menschenhändler sowie mit den anschließend eingeschleppten
tödlichen Krankheiten 1863/64, die Moai und die Ahnenverehrung
aber blieben.