Seit der Entdeckung der Osterinsel im Jahre 1722 haben sich
die Forschungsreisenden die Frage gestellt, welche Funktion
die mächtigen Moai entlang der Küstenregionen ausgeübt
haben und wen die Osterinsulaner mit diesen Statuen eigentlich
darstellen wollten. Während die ersten Entdecker um Jacob
Roggeveen noch davon ausgingen, dass es sich bei den Moai um
Götzen, also Götter handelt, wird unter James Cook
(1774) schon deutlich, dass die Moai Ahnen repräsentieren,
denn die Insulaner konnten jedem der Moai einen weltlichen Namen
geben, und jedem Moai wurde die Bezeichnung Areeke (für
ariki = Chef oder Häuptling) vorangestellt. Die Moai hatten
eine Art Schutzfunktion, deren wahre Bedeutung 1774 noch nicht
sichtbar war.
Neue Fragen kamen auf, als die Crew-Mitglieder des britischen
Kriegsschiffes "Topaze" 1868 erstmalig von der Existenz
des Moai-Steinbruches Rano Raraku mit einer Vielzahl dort aufgestellter
Moai berichten. Nachfolgende Forschergruppen wie Wilhelm Geiseler
(1882), William J. Thomson (1886) oder Katherine Routledge (1914/15)
bringen dann aber in Erfahrung, dass es sich auch bei den Moai
am Rano Raraku und auch bei den Statuen, die sich verstreut
in den Ebenen der Insel befinden, um Darstellung früherer
Ahnen handelt, denn auch diese trugen ausnahmslos weltliche
Namen. Doch die Frage, welche Funktion und Bedeutung die einzelnen
Moai-Gruppen genau hatten, konnten auch sie nicht beantworten.
Die Auflösung dieser Fragen beginnt mit der Entdeckung
von Augenfragmenten durch die Forscher Sonia Haoa Cardinali
und Sergio A Rapu im Jahre 1978 an der Ahu-Anlage Nau-Nau in
Anakena. Erst jetzt wird deutlich, dass bestimmten Moai früher
Augen-Inlays aus Korallenkalk eingesetzt wurden, anderen jedoch
nicht.
In der Betrachtung aller Moai fällt jetzt auf, dass sämtliche
Moai, die einer Ahu-Anlage zugeordnet werden können, mit
Augenhöhlen für Inlays ausgestattet wurden und sämtliche
Moai am Rano Raraku und in den Ebenen lediglich Augenschatten
besitzen. Außerdem wird bei diesem Vergleich deutlich,
dass sich nur bei den Moai auf den Ahu-Anlagen Grabkammern mit
den Gebeinen der Vorfahren befinden, während bei den Moai
am Rano Raraku nur vereinzelt menschliche Knochen gefunden wurden
und die Moai in den Ebenen überhaupt nichts mit den Gebeinen
der Vorfahren zu tun haben. Hieraus bieten sich bis heute folgende
Schlussfolgerungen an:
Mit Ausnahme *) ganz weniger Steinstatuen wurden sämtliche
Moai zum Gedenken an verstorbene Ahnen erstellt. Doch nur die
Moai auf den Ahu-Anlagen hatten als Gedenkstatuen der Ahnen
eine schützende Funktion gegenüber den lebenden Menschen.
Nur bei den Moai auf den Ahu-Anlagen konnte die Mana (spirituelle
Kraft) aus den Knochen des Verstorbenen in die steinerne Gedenkhülle
schlüpfen, und nur über die Augen konnten diese Moai
die jeweilige Siedlungsgemeinschaft sehen und somit vor Unheil
oder bösen Einflüssen schützen.
Die am Rano Raraku aufgestellten Moai fungierten dagegen nur
noch als profane Gedenkstatuen, ohne eine schützende Funktion
für eine Siedlungsgemeinschaft zu haben. Denn die Rano-Raraku-Moai
konnten weder sehen noch wurden sie mit den Gebeinen der zu
gedenkenden Vorfahren verbunden. Bei den Moai in den Ebenen,
das hatte bereits Katherine Routledge 1914/15 festgestellt,
handelte es sich zum größten Teil um Statuen, die
während des Transportes zerbrochen und dann aufgegeben
worden waren; sie galten als gestorben. Einige wenige Moai in
den Ebenen fungierten als Grenzmarkierungen zwischen den einzelnen
Clan-Territorien.
In der Literatur zur Osterinsel ist immer wieder zu lesen,
dass der Moai-Ahnenkult vom Vogelmann-Kult abgelöst wurde.
Doch Ablösen bedeutet in diesem Fall nicht Beenden.
Der Kult um den Vogelmann begann etwa um 1520 (siehe Vogelmann-Kult
ab Seite 109). Das offizielle Ende des Moai-Ahnenkultes (gemeint
sind die Zeremonien mit dem Einsetzen der Augen-Inlays) vollzog
sich rund 150 Jahre später, nämlich mit Ende des Poike-Krieges
um 1670 und mit Einstellung der Moai-Produktion am Rano Raraku.
Aber damit war die Ahnenverehrung mit den Moai nicht beendet.
So berichten die Reisenden um Jacob Roggeveen, dass sich die
Insulaner noch im Jahre 1722 vor den Moai niederwarfen und betende
Gesten vollzogen. 1770 wurden die Spanier um Felipe González
de Ahedo von den Insulanern gebeten, nicht in Gegenwart der
Moai zu rauchen, und die Mannschaft um James Cook erhielt 1774
Hinweise, bitte nicht über die Ahu-Anlagen zu laufen. Und
selbst 100 Jahre nach James Cook strahlte der Respekt vor den
Moai unter den Inselbewohnern immer noch nach, denn als Jakob
Weisser (von der Wilhelm Geiseler Expedition) 1882 einem am
Boden liegenden Moai ein Stück vom Ohr abschlagen wollte,
signalisierte der einheimische Führer, dass das nicht erlaubt
sei.
* Beispiel: Hoa Hakanononga (Gott der Thunfischer),
Tukuturi (der sitzende Moai), die Begräbnissäule
am Vinapu (Statue mit zwei Köpfen), Mare Hono (Statue
im Zugangsbereich Vai Atare), Hoa Hava (kleine Statue, die
1868 mit nach England genommen wurde).